Karl Emil Franzos,Deutsche Fahrten I,Reise- und Kulturbilder.Erste Reihe: Aus Anhalt und Thüringen. |
Karl Emil Franzos - 25.10.1848 bis 28.1.1904 |
Keine Regel ohne Ausnahme.
Nach Paulinzelle wollte ich, und da bin ich nun wirklich. Der Weg von Schwarzburg nach Paulinzelle über die Berge soll sehr hübsch sein, und ich hätte gewiß gestern nur meinen Koffer auf die Bahn gesetzt und nicht auch mich selber, wenn nicht die Wolken so niedrig herabgehangen hätten. Aber kaum, daß das Züglein abgedampft war, brach draußen die Sonne durch, während im Coupé ein Platzregen über mich niederging. Mir gegenüber saß nämlich ein Ehepaar, das sichtlich erregt war. »Das gehört in die Zeitung«, sagte er, und sie: »Ein Roman, Max!« Zeitungsromane sind ja sehr einträglich, dennoch widerstand ich der Versuchung, da billig einen Stoff einzuheimsen, und schwieg. Sie aber begannen mir trotzdem ihre Schwarzburger Erlebnisse mitzuteilen. Sie waren dort in einer Pension, wo es nach ihrer Darstellung »herrliche Bilder, sogar Landschaften«, aber sehr schlechtes Essen gab – »ist das nicht ein Roman?« Man muß auch mündlich immer zur Klärung über die wichtigsten Lehren der Poetik beitragen, und so erwiderte ich bescheiden, mir persönlich wären in einer Pension schlechte Bilder und gutes Essen lieber, aber ein Roman sei das eigentlich nicht. »So?« rief die Dame. »Und was mir dort mit dem Zimmermädchen passiert ist? Das ist ein Roman, das müssen Sie hören!« Sie hatte sich nämlich mit dem Mädchen gezankt, weil die Museumsassistentin die Gemälderahmen sauberer hielt als anderes, was allerdings nicht mit der Kunst zusammenhängt. Nun, anhören mußte ich diesen thüringischen Pensionsroman allerdings, denn das Bahnchen hat keine Durchgangscoupés, und so behaglich sein Tempo ist, so muß man sich doch das Aussteigen während der Fahrt überlegen. Als die beiden jedoch in Oberrottenbach – das letzte Kapitel der Dichtung war noch lange nicht in Sicht – gleichfalls ausstiegen und mir zu meiner freudigen Überraschung mitteilten, daß sie auch nach Paulinzelle wollten, da ließ ich sie in den neuen Zug klettern und stieg dann im letzten Augenblick in ein anderes Coupé. Nun war ich allein, und während vor meinem Aug die sanften Hänge des Rottenbachtals und die Hütten von Milbitz vorbeiglitten, aus deren gedrücktem Häuflein die Kirche mit der seltsamen Schweifkuppel hoch emporragt, konnte ich mich endlich darüber freuen, daß ich eine Stätte betreten sollte, deren Anblick ich mir schon so lange gewünscht hatte. Nicht deshalb, weil sie in allen Reisebüchern den Stern hat und »eine der schönsten Kirchenruinen Deutschlands« genannt wird; ich gehe diesen Sternen, wenn ich mich sachte zu meinem Vergnügen durch die Welt schiebe, weder aus dem Weg, noch jage ich ihnen nach, und »eine der...«, das weckt keine Sehnsucht. Aber da hatte mir vor Jahrzehnten einer gesagt: »Paulinzelle, das müssen Sie sehen. Der bröckelnde Wunderbau im einsamen Waldtal – mir war ehrfürchtig zumut; es ist wie ein steingewordenes Gebet aus dem alten deutschen Volksgemüt. Ich bin kein Kunstmensch; Italien hat wenig auf mich gewirkt, die großen Dome schon gar nicht; ich hatte nur immer die Empfindung der kalten, dumpfen Luft und den Gedanken: die dies gebaut haben und nun drin Messe lesen, sind gegebene Männer, fremdem Willen so knechtisch untertan, daß sie nicht einmal aus der eigenen Seele heraus richtig fromm sein können. Paulinzelle aber – nächst der wackeren Hroswitha von Gandersheim, deren Dramen ich in meiner Doktordissertation so fürtrefflich traktiert habe, hat mir keine andere Nonne der Welt so imponiert wie die Beata Paulina de Schraplau, obwohl sie ihrem wackeren und geduldigen Eheherrn das Leben schwer genug gemacht hat.« Es war Gustav Freytag, der mir das sagte. Dann ein Eindruck, den ich selbst empfangen hatte. Ich war zu Hirsau in Schwaben und sah mir die Ruinen des Klosters an, aus denen die Ulme wächst, die Uhland besungen hat; der Mordbrenner Mélac hat hier noch viel gründlichere Arbeit getan als im Heidelberger Schloß – aber wie schön sind diese romanischen Säulenbogen! »Wenn Sie sich dafür interessieren«, hatte mir der Pfarrer gesagt, »müssen Sie nach Paulinzelle gehen; das Hirsauer war sein Mutterkloster, auch für den Stil maßgebend, aber die Tochter hat die Mutter an Schönheit weit übertroffen...« Gespannt lugte ich aus dem Coupéfenster; eine Biegung der Bahn, nun ein tiefgrünes Waldtal und mittendrin, wie Riesen über den höchsten Wipfeln aufragend, ein herrliches Portal und ragende Mauern, aber nur eine Sekunde lang; die Bahn tritt dicht an den Wald, biegt wieder, dann geht der Zug langsamer: die Station.