Paulinzelle


Als alles stille war, ging ich zu der Ruine. Rechts vom Gasthof führt der Weg ins Waldtal hinein. Zunächst trifft man auf eine niedrige, zerfallene Mauer, die Grenzmauer des Klosters. Dann geht es, sacht ansteigend, am Amtshaus vorbei, und wie man um seine vorspringende Ecke biegt, da steht's vor einem wie aus der Erde gewachsen: das herrliche, säulengetragene Westportal in einer reich gegliederten Giebelwand und ein gewaltiger Turm. Tritt man durchs Portal ins Mittelschiff mit den ragenden, hohe Mauern tragenden Säulen, so steigert sich nur der Eindruck, aber das schönste Bild bietet sich erst dem entzückten Auge, wenn man von der Ostseite her das Ganze überschaut. Hier erst vermag man die edlen Verhältnisse der Säulen wie der ganzen Anlage recht zu erkennen. Es ist alles so licht und schön, stolz und schön, ernst und schön; ich wiederhole immer dasselbe Wort; ich weiß hier kein anderes. Die klare Schönheit ist's, die einen vor allem fesselt, doch nein, in noch stärkeren Bann zwingt die Stimmung, die der Raum atmet, das Gemüt: der feierliche und doch lichte Ernst, die weihevolle Anmut. Ansichtskarte von Paulinzella Und was diese Stimmung noch mehrt: rings tiefste Stille und kein Laut des Lebens, kein Haus, nur überall Wald, der ernste, ernste Tannenwald. Es ist wie im Märchen: da stehst du allein im tiefen Forst, und was du hörst, ist nur das leise, klingende Rauschen seiner Nadeln, aber was du siehst, ist ein Wunderbau an Wucht und Schönheit. Freilich, bröckelnde Wucht, versehrte Schönheit, aber weil du selbst nur ein armer schwacher Mensch bist, so greift dir vielleicht gerade dies am tiefsten ins Gemüt. Ehrfürchtig ward auch mir zumut, als säh ich einen Herrlichen, der sich aus der Welt geflüchtet hat, in der Stille zu verbluten... Ich werde den Eindruck dieser ersten Stunden nie vergessen; nur eine Ruine auf deutscher Erde hat so tief auf mich gewirkt; sie ist reicher, schöner, interessanter; sie beschwört ganz andere Erinnerungen herauf, gewiß; aber so einheitlich, so das Herz aufwühlend ist die Wirkung nicht – dort ist's eben eine Symphonie und hier ein Choral... Die Sonne rückte höher, zuweilen klang der Hall eines Uhrglöckchens durch die große Stille, zaghaft und leise, als wüßte es, daß man hier die Zeit nicht nach Stunden mißt; ich achtete nicht darauf... Erst als von fern ein leises Donnern an mein Ohr schlug und dumpf anwuchs, horchte ich auf; nun ein langgezogener, gellender Pfiff; seufzend erhob ich mich – der zweite Zug, diesmal von Arnstadt her, bald waren sie da. Ich bin kein Menschenfeind, kein Menschenverächter – hier hätte ich das fröhliche Schwatzen nicht ertragen. Ich ging heim; nah dem Gasthof begegneten sie mir, diesmal ein noch größerer Haufe, wohl Amerikaner unter Cookscher Führung; »make haste, if you please«, mahnte der Leithammel, und dabei lief die arme Herde ohnehin schon im Trab. So habe ich es in diesen beiden Tagen gehalten; ich kam, wenn die andern gingen, und ging, wenn sie kamen. Viele Stunden, aber sie waren mir reich ausgefüllt. Nun, wo das Gesamtbild feststand, suchte ich die Einzelheiten zu erfassen, nun, wo ich die Stimmung unvertilgbar im Gemüt trug, zu erkunden, woher sie rührte. Das ist nur bei Falschem und Kleinem gefährlich, bei Großem und Echtem erhöht es die Freude. Nie ist – gottlob! – der Gedanke aufgetaucht, die Ruine wieder auszubauen, nie hat meines Wissens auch nur ein Maler dies mit dem Pinsel versucht, aber das erste wäre mögliche, wenn auch törichte, das letzte unschwere Arbeit, so viel ist erhalten, so bewunderungswürdig klar ist die Anlage des Ganzen. Eine dreischiffige Säulenbasilika mit Querhaus, also in Kreuzesform; das Chor mit dem Hauptaltar gegen Osten gestellt, also das Hauptportal gegen Westen; hier schloß sich eine Vorkirche an. Einiges nun liegt in Trümmern, vieles ist spurlos verschwunden, aber es steht mehr aufrecht als an den anderen Kirchenruinen Deutschlands und jedenfalls so viel, um der Phantasie die reizvolle Arbeit des Ergänzens und Aufbauens zu ermöglichen. Die Vorkirche war von zwei wuchtigen Türmen, Wehr- und Glockentürmen zugleich, flankiert und durch zwei auf Pfeilern ruhende Rundbogenreihen ebenfalls in drei Schiffe geteilt wie das Langhaus der Kirche. Hiervon ist genau die Hälfte erhalten: ein Turm, eine Pfeilerreihe und die südliche Hauptwand; der Maler oder der Architekt – aber nein! mit diesen Gedanken sollte man in Tagen wie den unsrigen, da man die schönsten Ruinen durch Ausbau verschimpfieren will, nicht einmal spielen – der Maler also brauchte auf der Nordseite nur zu kopieren, was er auf der Südseite nach der Natur malen kann. Noch besser steht es um das Hauptportal; es ist ganz erhalten; die Giebelwand, die sich darüber erhebt, mußte vor etwa zwanzig Jahren abgetragen werden, ist aber dann sorglich wieder aufgemauert worden. Das Wichtigste und Erfreulichste aber ist, daß das Langhaus fast unversehrt dasteht; wer im Südschiff steht, darf sich, was den Bau an sich betrifft, genau desselben herrlichen Bildes freuen wie der Pilger vor achthundert Jahren; noch ragt die Doppelreihe schöner stolzer Säulen, die das Mittelschiff von den Seitenschiffen trennen und über kühnen Rundbogen die Scheidewände tragen, noch die nördliche Außenmauer; nur die südliche, die der Pilger im Rücken hatte, ist verschwunden. Das Bild des Baus, sagt ich, ist dasselbe, nur liegt es heut im vollen Licht, während der Dom einst trotz der zahlreichen Fenster etwas dämmrig gewesen sein muß, denn über den gewaltigen Mauern, die in voller Höhe erhalten sind, blinkt nun das Blau des Himmels; einst spannte sich eine flache Decke darüber wie über allen Bauten streng romanischen Stils jener frühen Zeit. Völlig erhalten ist ferner der Querbalken des Kreuzes; dies Querhaus hat auch noch beide Außenmauern mit ihren Giebeln. Nur das Chor ist bis auf Mauerreste, die seine Anlage zeigen, verschwunden; ein unersetzlicher Verlust für das Auge des Genießenden wie für unsere Kenntnis alter deutscher Baukunst, denn gerade die Ostfassade mit ihren fünf mächtig ausladenden Apsiden, die im Innern Altäre bargen, war offenbar die schönste des Doms. Immerhin hat die Phantasie auch hier Stützpunkte genug, um nachzuschaffen, und gewiß liegt auch darin eine Erklärung für den Zauber, den die Ruine übt. Rätselhafte, scheinbar regellose Trümmerstätten atmen auch schwächere Stimmung; die Wehmut, die uns Ruinen einflößen, ist um so stärker, je klarer wir erkennen, was wir verloren haben. Der stärkste Zauber freilich, den Paulinzelle übt, liegt nicht in der Wehmut über das Verlorene, sondern in der Freude an dem Erhaltenen. Der Dom gehört wie zu den ältesten so zu den schönsten und größten Werken romanischen Stils auf deutscher Erde und verbildlicht die reinste Zeit dieses Stils, den Hochromanismus. Schon die Maße imponieren an sich, wie sie durch ihr Verhältnis zueinander das Auge laben: an so kühnen, schlanken Formen darf es sich selten erfreuen. Der Hirsauer Mönch, der den Bauriß entwarf – keine Urkunde nennt seinen Namen –, war ein ebenso trefflicher wie wagemutiger Künstler: das Langhaus ist fast doppelt so hoch, als es breit ist, selbst das Querhaus (Kreuzschiff) noch immer etwas höher als breit, der ganze Bau vom Hochaltar bis zur Eingangspforte der Vorkirche etwa viermal so lang als breit und nur wenig über das Doppelte länger, als er hoch ist. Zur Vergleichung ziehe ich einen gleichfalls herrlichen allbekannten Dom an, St. Stefan zu Wien, und zwar eben deshalb, weil schon er im Innern den Eindruck kühn und leicht aufstrebender Maße macht. Das Innere von St. Stefan ist um etwa 2 Meter niedriger als das von Paulinzelle, hingegen um 28 Meter länger; die Breite des Kreuzschiffs übertrifft die Höhe um nahezu das Dreifache. Bei dieser ungemeinen Neigung des Paulinzeller Künstlers zum Schlanken und Hohen wäre der Eindruck seines Werks ein minder feierlicher, wenn nicht der Säulenbau ein so wuchtiger wäre; das stellt die Harmonie wieder her.



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