Paulinzelle


Unruhvoll war das Leben der seltsamen Frau und selbst ihren Gebeinen keine Rast beschieden. Auf den Schultern trugen die Mönche den Sarg wochenlang durchs Waldgebirg aus Franken bis Paulinzelle und begruben ihn hier. Aber die einsame, rauhe Waldwildnis schreckte die Hirsauer; sie übersiedelten in die Nähe von Querfurt und wollten den Bau dort aufrichten; den Sarg gruben sie aus, trugen ihn wieder viele Tagereisen nordwärts und bestatteten ihn an der neuen Wohnstelle. Da erschien, wie Sigeboto erzählt, Paulina ihrem treuesten Diener im Traume und klagte, daß man ihren Willen nicht geachtet, ihre Grabesruhe verletzt habe; dies bewog, sagt er, die frommen Mönche zur Rückkehr. Die Historiker aber verweisen auf eine Urkunde, den Drohbrief des Vogts des Klosters, Sizzo von Kävernberg, an die Mönche, das gesamte Klostergut einzuziehen, wenn sie den Bestimmungen des Stiftsbriefs nicht entsprächen. So kehrten sie zurück; abermals wurde der Sarg gehoben, nach Paulinzelle befördert und dort (1128) bestattet. Aber da begann 1130 der Bau, und da die fromme Sitte erheischte, die Gebeine der Stifterin unter dem Hochaltar zu bestatten, so wurde der Sarg unter großem Pomp 1132 wieder dorthin übertragen. Und wie die früheren Male erklang es auch nun über ihrem Grabe: »Requiem aeternam dona ei!« Etwa sieben Jahrhunderte blieb nun auch ihre Ruhe ungestört, da fand man 1804 bei Nachgrabungen in der Ruine den Sarkophag und öffnete ihn. Aus dem Befund wissen wir, daß die starke Seele in einem kleinen, dürftigen, dünnknochigen Körper gewohnt hat. Der damals regierende Fürst ließ den Sarg an derselben Stelle wieder eingraben, aber viel tiefer, um ihr nun die Ruhe für immer zu sichern. Für immer? Mehrere Grabsteine, die man im Trümmerwerk fand, sind nun im Nordschiff der Kirche aufgestellt; der verwitterte Sandstein zeigt neben stolzen Epitaphien Wappen und Gestalten: Äbte mit dem Krummstab in der Rechten, der Bibel in der Linken; Schutzvögte in reisigem Gewand, die Rechte am Dolch, die Linke aufs Schwert gestützt; dann opferfreudige Donatoren, er im Wams, die Hände über dem lang herabwallenden Vollbart auf der Brust gefaltet, sie mit faltig bauschendem Gewand und Kopftuch. Sie haben vielleicht all ihr Gut geopfert, an dieser begnadeten Stelle schlummern zu dürfen, bis die Posaune klingt – und wo modert nun ihr Gebein? Der Bauer mit dem Kartoffelsack führte mich zu einem solchen Stein. »Mei Weib«, sagte er, »meinet immer, wenn die von oben hinunderschaun, so halden sie sech für bedrogen, und 's dhut ihne wehe.« – »Und Sie?« fragte ich. »Mei Bruder«, erwiderte er ausweichend, »meinet wieder: drüben is nix, gar nix.« Dann aber, nach einem langen Blick auf mich, ganz zaghaft: »Ich aber dhu meinen: drüben is was, aber ganz was anners als hier, drüben is kein Leid; Leid un Grab – das is irdische Sach.« Wie gesagt, es war nur ein Bauer mit einem Kartoffelsack. Hat er unrecht, empfindet drüben die abgeschiedene Seele Sorge und Leid um ihr irdisch Werk, so hat die Stifterin dieses Klosters sie reichlich hegen müssen. Dank den gewaltigen Reichtümern, mit denen sie ihre Stiftung ausgestattet hatte – es waren neunzehn Dörfer, dann Zinsen und Zehnte aus über hundert Ortschaften, endlich eine Fülle einzelner Höfe, Wälder, Wiesen, Äcker, Gärten, Teiche usw. –, dank der gesunden Einsicht, die sie Hirsau als Muster wählen ließ, aber auch dank dem glücklichen Zufall, der ihr in dem ungenannten Hirsauer Mönch einen großen Künstler zuführte, wurde die Kirche so schön und prächtig, als sie es irgend geträumt hatte, auch das Kloster stattlicher als irgendeines jener Tage; dies beweisen die bewundernden Berichte der Zeitgenossen, dies die Nachgrabungen, welche die Grundlagen eines gewaltigen Baus freilegten. Auch wurde Paulinzelle ihrer Bestimmung gemäß ein Doppelkloster, Mönche und Nonnen unter getrennten Dächern, aber unter dem Krummstab desselben Abts, nach der Regel des heiligen Benedikt, eines der wenigen Doppelklöster dieses Ordens. Aber was nun Paulina ferner anordnete: eine strenge Zucht, welche die von Hirsau an Askese noch überbot, und rege geistige Tätigkeit blieb unerfüllt. Die drei ersten Äbte, sämtlich Hirsauer Schwaben, hielten zum mindesten leidliche Zucht, ließen auch ab und zu einen Psalter mit kunstvollen Initialen fertigen; seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts war von beidem nicht mehr die Rede. Der Grund ist offenkundig der allzugroße Reichtum; der thüringische Adel versorgte dauernd hier seine jüngeren Söhne und seine unhübschen Töchter; die Äbte wurden den edelsten Geschlechtern des Landes entnommen (Kävernberg, Schwarzburg, Hettstedt u.a.). Während das nächste Kloster derselben Regel, das auf dem Petersberg zu Erfurt, ein Mittelpunkt der geistigen Kultur Thüringens wurde, dem Lande seine ersten Geschichtsschreiber und Dichter gab und durch die treffliche Schule weithin wirkte, begnügten sich die Äbte von Paulinzelle mit dem Glanz, den ihnen ihr Reichtum gab, und der Auszeichnung, die Mitra, die Bischofsmütze, zu tragen; die Zucht wurde lässig gehandhabt, dem braven Sigeboto erstand kein Nachfolger in der Schriftstellerei; der Posten des Schulmeisters war eine Sinekure. Man wollte gar keine Schüler, wie man nicht zuviel Mönche und Nonnen wollte: für beide war sechzehn der »numerus clausus«, der möglichst herabgedrückt wurde. So rächte sich die unheimliche, selbst in jenen Tagen fast beispiellose Gier Paulinas nach Schätzen für ihre Stiftung, indem diese gerade darum nie zu rechter Bedeutung kam. Noch mehr, war es, wie nach den Quellen nicht zu bezweifeln, die stärkste Triebfeder Paulinas, einst die Heiligsprechung zu erringen, so erreichte sie das Ziel eben deshalb nicht, weil sie zu viel dazu tat. Ärmere Klöster boten alles auf, ihre Stifterin zur Sancta erhoben zu sehen; es regnete nur so Mirakel und Bittschriften an den Papst, bis das Ziel erreicht war, denn die Erhöhung der Patronin füllte die Kassen; die Paulinzeller Äbte rührten keinen Finger für sie, und die arme Paulina blieb nur eben eine Beata! Um 1400 begann auch hier, wie in so vielen Klöstern, der Verfall; Bedrückungen des Mainzer Bistums, üppiges Leben, schlechte Verwaltung, wohl auch allzu große Bautätigkeit brachten die einst so blühenden Finanzen arg herab, und da das Klosterleben nicht mehr wie früher als fashionable galt, so zog sich der Adel zurück. Im 15. Jahrhundert gab es nur noch bürgerliche Äbte; zuerst wohlhabende Bürgerssöhne aus den Nachbarflecken, so aus Königssee, dann gar nur Bauernsöhne aus Siegen, Milbitz und andern Dörfern. Das gleiche galt von den Nonnen; in den Aufnahmeregistern befindet sich kein vornehmer Name mehr. Das schlimmste aber war, daß die Klosterzucht immer mehr verfiel; war schon einst die Beziehung zwischen den adeligen Mönchen und Nonnen eine so freundnachbarliche, daß der Mainzer Erzbischof und der Petersberger Abt Anstoß daran nahmen, so trugen nun vollends die Bürger- und Bauernsprossen im Mönchs- und Nonnenhause die hereinbrechende Not in so treuer Gemeinschaft, daß sie um alle Achtung kamen und das herrliche Kloster derbe, in unseren zahmen Tagen nicht druckfähige Beinamen erhielt. Zwar die »dreihundert und drei« Kindesgerippe, die sich, wie mir das ältliche, aber unschuldige Minchen mit Grauen erzählte, beim Nachgraben im Nonnenhause gefunden haben sollen, sind eine Sage, aber wüste Dinge allerdings beglaubigte Tatsachen. Der reinigende Sturmwind der Reformation fegte das Unwesen hinweg. Während des Bauernaufstands von 1525 zog ein Haufe von Königssee auch nach Paulinzelle und trieb es hier arg wie anderwärts: Mönche und Nonnen wurden »zum Beichten gebracht«, Vieh und Pferde weggetrieben, der Hausrat geplündert oder zerstört, aus der Kirche die Monstranzen, Kelche und Reliquienkästchen mitgenommen und verteilt. Bezeugt ist ferner, daß auch einzelne Altäre zertrümmert wurden, aber ebenso, daß die Stürmenden an den Bau nicht rührten, auch niemand ums Leben brachten. Das gleiche gilt vom ganzen Thüringer Wald; schlimmer war's gegen den Kyffhäuser zu, wo der finstere Thomas Münzer hauste. Als seine Scharen bei Frankenhausen niedergemetzelt waren, brach auch über die Bauern dieser Waldtäler ein furchtbares Strafgericht herein, und die Mönche wurden auch in Paulinzelle wieder eingesetzt. Doch kamen nicht alle wieder, und die Nonnen trauten sich vollends nicht heim. Schon 1534 wagte es Graf Heinrich XXXIV. von Schwarzburg, das Kloster zu säkularisieren; zwar stellte es ein Machtgebot Karl V. 1541 wieder her, aber die Urkunde war das Pergament nicht wert, auf dem sie geschrieben war – was sollte das entweihte, entwürdigte Kloster im evangelisch gewordenen Lande? Nachdem der letzte Abt, ein Milbitzer Bauernsohn, gestorben war, stand der Bau verödet.



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