Im Schwarzatal


Das Innere des Schlosses habe ich gesehen. Das Schönste daran ist die herrliche Aussicht, fast aus jedem Raum ein anderes Landschaftsbild und jedes gleich entzückend, aber hübsch ist auch die Einrichtung mehrerer Gemächer, einheitlich in Rokoko oder Zopf, nichts Besonderes, aber geschmackvoll. Nur von den Bildern ist bei bestem Willen wenig Gutes zu sagen; viele sind nur Kuriosa. So enthält zum Beispiel das Pferdezimmer 246 (kein Schreibfehler!) kleine Porträts von Pferden und Reitern; die meisten hat Fürst Ludwig Günther IV. (1767-1790) eigenhändig gemalt. Wie die Gemälde Friedrich Wilhelm I. im Potsdamer Stadtschloß eine kleine Eigentümlichkeit aufweisen – die Menschen haben zwei linke Beine –, so auch diese eines kleineren Potentaten: die Köpfe der Pferde und Reiter sind zu klein, hingegen die Hälse zu lang und dick und die Hinterteile von Mensch und Tier geradezu gigantisch. Anders als in anderen Köpfen malte sich in diesem der allerdings unentbehrliche Körperteil. Mein Bremer war entzückt. »Dritthalb hundert Bilder – und dabei hat er immerzu regiert! Wenn das ein Künstler tut, so tut er's für Brot; er hat's für die Kunst getan. Und die rechte Schulung fehlt, sagen Sie? Nun also! Denken Sie mal darüber nach: jedes Talent ist angeboren!« Weniger verschieden urteilten der Kaufmann und ich über den Kaisersaal; wir hatten beide was auszusetzen, nur eben jeder anderes. Das ist in seiner Bauart wohl der seltsamste Raum, den ich je im Leben gesehen habe: er geht durch zwei hohe Stockwerke, aber die Wände sind nur etwa von doppelter Mannshöhe, darüber beginnt bereits in drei Absätzen die Decke. Der erste Absatz ist – derlei Schätzungen mit den Augen sind ja allerdings unsicher – etwa drei Meter hoch, sacht abgeschrägt und gewölbt, darüber erhebt sich senkrecht aufstehend, etwa acht Meter hoch, der zweite Absatz; ein spitzes, steiles Spiegelgewölbe bildet hoch oben den Abschluß. Wer unten steht, hat gar nicht den Eindruck, als stünde er in einem Saal, sondern im Unterbau eines gewaltigen Kamins, der eigentlich die Hauptsache ist. Auch die gleich unerhörte Lichtverteilung erhöht den Eindruck, als ob das Ganze um jenes Riesenschlots willen geschaffen wäre; in ihn flutet durch breite hohe Fenster an der Decke von allen Seiten Licht herein, während der eigentliche Saal überall da, wohin nicht das Licht von oben dringen kann, fast dämmrig ist, denn er hat nur kleine Fenster, deren Scheiben zudem bunt bemalt sind. Der Kaisersaal, vermutlich um 1600 erbaut, ist bei dem Brande von 1726 verschont geblieben; weniger glimpflich hat die Restaurierung von 1869 mit ihm verfahren. Hier war, glaub ich, jede Modernisierung von vornherein ein bedenkliches Beginnen; es handelte sich ja um ein Kuriosum, eine historische Reliquie, die gewiß nur der individuellen Laune des Erbauers ihr Dasein verdankt; derlei kann man wegtun, wenn das künstlerische Empfinden die Pietät überwiegt, oder erhalten, wenn das Gegenteil der Fall ist, aber modernisieren darf man's nicht; »sint, ut sunt, aut non sint«. Zudem war hier die Renovierung keine glückliche; der untere Saal macht durch die bunt bemalten Fensterscheiben, die kleinen, durch Spruchbänder unterbrochenen Friese mit Tuschbildchen aus der Geschichte des Geschlechts und Landes, die modernen, alten Mustern kümmerlich nachgeahmten Kamine einen schielenden Eindruck: Pseudorenaissance; so was macht man für einen Bankier, der sich ein Nürnberger Zimmer bestellt hat. Dem untersten, dem schrägen Absatz der Decke waren einst Medaillons eingefügt, welche die Brustbilder römischer Kaiser von Julius Cäsar bis auf Karl VI. enthielten; die Rahmen sind erhalten, aber die Porträts mit hellgelber Farbe übertüncht. Die Bilder mögen nicht schön gewesen sein, das glaube ich gerne; sie waren eben kurios wie der ganze Raum und ihm angepaßt; heute machen die getünchten Flächen innerhalb des erhaltenen Rahmens nicht bloß den Eindruck des Unbegreiflichen, sondern auch der Leere und Öde. Nicht viel besser ist bei der Umgestaltung der hohe, helle Schlot fortgekommen. Auch er war einst mit Kaiserbildern bedeckt, heute hat man darüber helle Rahmen gespannt und auf diese Rahmen je ein Bild eines deutschen Kaisers gehängt: so baumeln da oben Karl der Große, Heinrich I., Friedrich Barbarossa und Günther von Schwarzburg ganz verloren im grellen Licht auf den großen kahlen Flächen; einige winzige Putten, die man außerdem angebracht hat, machen die Kahlheit dem Auge noch empfindlicher. Der Bremer nun war in allem anderer Meinung; ihm schien der Kaisersaal »einfach erhaben – erhaben, verstehen Sie – wie das ganze Schloß«. Vielleicht war's ehrlicher Enthusiasmus, vielleicht auch hatte ein Tischnachbar aus Rudolstadt recht, der mir sagte: »Hätte ich ihm nur nicht erzählt, daß Schwarzburg-Rudolstadt ein so hübsches Ehrenkreuz am blaugelben Bande verleiht!« Eins aber, was mir begreiflich schien, tadelte der Republikaner: daß keines der vier Kaiserbilder von 1869 den Kaiser Wilhelm darstellte. Als ich ihn auf die Jahreszahl aufmerksam machte, stutzte er einen Augenblick und rief dann: »Nun gut, aber jetzt müßte einer von ihnen 'runter und Kaiser Wilhelm 'rauf!« – »Ja, aber welcher?« Er dachte nach. »Mein Liebling Günther von Schwarzburg muß natürlich bleiben, aber von den drei anderen hat keiner solche Verdienste wie Kaiser Wilhelm. Denn« – der Zeigefinger hob sich – »denken Sie mal darüber nach: die Einigung Deutschlands war ein wichtiges Ereignis!« Gewiß, es wirft mir sogar ein Licht aufs ganze Leben, daß ich dies »wichtige Ereignis« bereits als denkender, fühlender Mensch mit erleben durfte – aber hm! das mit dem Ehrenkreuz war doch wohl richtig. Hätten die Karolinger, die Nachkommen Heinrich I. und die Staufen, dachte ich, auch noch Orden zu vergeben, dann wäre am Ende gar nicht Günther von Schwarzburg sein »Liebling«! Besser als die Kunst ist im Schwarzburger Schlosse das alte Kunstgewerbe vertreten, namentlich im Zeughause, der Bau ist dürftig, der Inhalt wertvoll, in mancher Hinsicht einzig. Schönere Jagdgeräte aus dem 15. und 16. Jahrhundert habe ich nirgendwo gesehen; schönere Gewehre und Schwerter aus derselben Zeit selten. Sehr merkwürdig sind die Männerhüte, Filz mit Silberstickerei; nicht bloß dies, sondern auch wunderschön die Rokokoschlitten, einer, der Drachenschlitten, offenbar das Werk eines wirklichen Künstlers voll überschäumender Phantasie. Auch die Kummetgeschirre mit reichster Holzschnitzerei mag man sich genau ansehen, um zu erkennen, wie reich selbst eine vergleichsweise öde Zeit – das 17. Jahrhundert – noch an guten Traditionen und künstlerischen Talenten war. Zu loben ist auch, daß die bedenklichen Kuriosa nun ausgemerzt sind; so gab es hier auch das breite Ehebett des Grafen von Gleichen; nun ist es verschwunden. Auch im Schloß selbst findet sich manches hübsche Schnitz- und Gießwerk. Da ist – auf einem der Kamine des Kaisersaals aufgestellt – ein aus Holz geschnitzter Löwe, mit Pergament überzogen, mit Reliefs geschmückt; sicherlich uralte, etwa aus dem 13. Jahrhundert stammende oder nicht viel später einem Meister jener Zeit nachgebildete Arbeit. Der Löwe ist ein Kasten; ein anderes Schaustück, die »güldene Henne« (eine Auerhenne aus vergoldetem Silber), ein Trinkgefäß. Aus der Henne tranken im 16. Jahrhundert die Gäste, die zum ersten Mal an der fürstlichen Tafel erschienen, den Willkomm und bekamen dabei das »Geschmeide«, einen schweren Holzklotz, an einer Kette um den Hals gelegt. Das war ein Spaß im Stil jener Zeit, aber daß er noch heute geübt wird, hörte ich mit Staunen. Der Bremer aber mit Entzücken: »Das muß 'n Hochgenuß sein!« – »Der Klotz um den Hals?« – »Aber als Gast eines Fürsten! Und der Klotz muß wohl ein Symbol sein!« Wieder hob sich der Zeigefinger. »Denken Sie mal darüber nach: Symbole haben oft ihre Bedeutung.« Weit früher als das Schloß habe ich das Juwel Schwarzburgs, den Trippstein, besucht und bin seither noch zwei Male dagewesen; der Eindruck wurde nur immer stärker; das ist ja der Prüfstein alles wirklich Schönen, daß es um so mehr entzückt, je vertrauter es uns wird. Vielleicht auch lag es daran, daß ich die beiden letzten Male allein hinging und wenige Leute oben fand, während der Gipfel des Hügels das erste Mal von Menschen wimmelte und ich auch schon in Gesellschaft emporstieg. Mein Wille war's nicht.



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