Im Schwarzatal


In Stadtilm bekam ich einen weit netteren Reisekumpan. Gleich wie er einstieg, gefiel mir der angegraute Herr mit dem freundlichen Ausdruck und den klaren, wohlwollend und doch forschend blickenden Augen ausnehmend gut. Kein Wunder, er erinnerte mich an den mir teuersten Menschen, meinen Vater, nicht im Schnitt der Züge, aber in ihrem Ausdruck und diesem Blick der Augen. Das muß ein Arzt sein, dachte ich, ein Landarzt, wie mein Vater war, und sprach ihn kurzweg »Herr Doktor« an. Da er zudem meinen Namen kannte, so gab das bis Oberrottenbach, wohin er zu einer jungen Mutter fuhr, eine vergnügte Plauderei zwischen zwei alten Knaben, denen das Leben die Freude an Welt und Menschen nicht hat vergällen können. Auf jeden Fels und Baum am Wege, der ihm gefiel, machte er mich aufmerksam und erzählte von den Gräberfunden am Singer Berg, als die Bahn gebaut wurde: Trinkgefäße und Frauentand; »die Männlein und Weiblein waren nicht viel anders als heute«. Dann fragte er mich nach meinem Ziel, und als ich's nannte, beruhigte er mich zunächst mit der selben Bestimmtheit wie der Herr Gerichtsvollzieher, daß es im»Weißen Hirsch« ganz gewiß Platz gebe, und fragte dann tiefernst, ob im deutschen Volke plötzlich die Bücherkaufwut ausgebrochen sei. Als ich erwiderte, daß derzeit noch keinerlei Anzeichen einer so bedenklichen Wandlung des Volkscharakters vorlägen, riet er mir, anderswohin zu gehen, und nannte gleich ein paar Orte, die freilich nicht an der Bahn lagen. »Da sitzen Sie mitten im Volk«, meinte er, »der ›Weiße Hirsch‹ taugt besser für holländische Königinnen und dito Bankiers.« Zum Schluß erzählte er von der jungen, reichen Bauersfrau, zu der er fahre. »Sie hat ja alles getan, sich und das Kind gesund zu erhalten. Eine Schwangere darf kein Wasser schöpfen, über kein Beet steigen, keine schadhafte Tanne ansehen, weil sonst das Kind eine Hasenscharte bekommt, keine Leiche ansehen, weil es sonst blaß bleibt; das hat die Hanne vermieden. Auch hat sie bis heute allnächtlich Licht gebrannt, weil die Kobolde ihr sonst einen Wechselbalg untergeschoben hätten; und weil der Rottenbach nah ihrem Haus vorbeifließt, so hat sie sich hingeschleppt, sobald sie konnte, hat ein Pfennig-, ein Fünfpfennig- und ein Zehnpfennigstück hineingeworfen und dazu gesagt: ›Da hast du das Deine, laß mir das Meine‹, das stimmt nämlich den bösen Wassermann sanft. Auch ist das Kind am Donnerstag zur Welt gekommen, nicht etwa am Freitag, sonst hätte es kein Glück, auch nicht am Sonnabend, sonst müßte es von den Juden Geld leihen; wäre es gar am Dreifaltigkeitstag geboren, so müßte es am Galgen sterben. Selbstverständlich hat sie auch den Säugling nie in den Keller tragen lassen, sonst käme er ins Zuchthaus, sich ihn nie durchs Fenster reichen lassen, sonst bliebe er klein, und damit er einst fein singe, hat er ein Lerchenei verschlucken müssen. Bei solcher Fürsorge für sich und das Kind begreift sie gar nicht, warum sie seit acht Tagen so elend ist und auch ihre Milch nichts taugt. Und da unbegreiflicherweise das Besprechen, eine Latwerge und sogar ein Aderlaß nichts genützt hat, so hat sie mich vorgestern endlich holen lassen. Diagnose: gründlich verdorbener Magen infolge unmenschlichen Überfressens bei der Taufe. Natürlich glaubt sie mir nicht, hat aber hoffentlich meine Medizin genommen; gewiß weiß man das nie.« – »Es ist noch viel Aberglauben hier?« – »Wo nicht im Volke? Aber daneben viel Liebe und Hunger, viel Poesie, Sagen und Lieder, daß die Berge widerhallen. ›Thuringia cantat!‹ Und darum: ins Volk, lieber Herr!« Das wiederholte er, als wir auf dem Bahnsteig in Oberrottenbach schieden. Denn unser Züglein dampfte nun nach Blankenburg weiter, ich aber bestieg ein anderes, noch zierlicheres, das hier ins Schwarzatal abzweigt.



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