Im Schwarzatal


Kurz, nachdem ich den Herrscher des Ländchens zuerst gesehen, wurde ich von dem Gebieter des »Weißen Hirsch« in seinem Audienzsaal, dem Vestibül des Gasthofs, empfangen. Ich bat um ein Zimmer mit Aussicht; »Sie bekommen eines nach vorn heraus«, lautete die Entschließung. Als ich nun dies Zimmer in Begleitung eines Adjutanten des Gebieters betrat, konnte ich mich überzeugen, daß es wirklich eine Aussicht hatte: trunken schweifte mein Blick über den Biergarten des »Thüringer Hof«; das Postgebäude im Hintergrunde war auch recht malerisch. Ich wandelte den Korridor auf und nieder; dabei konnte ich, da die Zimmertüren offen standen, eine Reihe hübsch möblierter Zimmer sehen, aus deren Fenstern sich ein prächtiges Waldbild bot. »Die Zimmer sind wohl alle besetzt?« fragte ich eine würdige Greisin, die eben mit Staubtuch und Besen herankam, worauf diese Seniorin aller mitteleuropäischen Stubenmädchen seufzend erwiderte: »I du meine Güte – merschtentels nich! Sie müssen nor natürlich feste druf drucken, denn sie geben doch natierlich lieber zuerscht nor die Stuben nach vorn naus wech!« Da suchte ich nochmals um eine Audienz nach, drückte aber nicht feste, sondern erklärte nur: »Wenn ich das Postgebäude allein bewundern darf, so will ich's doch wenigstens in seinem ganzen Reiz genießen; ich glaube, vom ›Thüringer Hof‹ macht es sich noch malerischer«, worauf ich ein Zimmer nach hinten hinaus bekam, etwas hoch zwar, aber ein schönes Zimmer mit Balkon und herrlicher Aussicht auf Wald und Wiese. Blick zur Hirschwiese
Diese Aussicht hat mich die acht Tage hier festgehalten, wenn ich minder angenehmer Dinge wegen gehen wollte, und ich werde sie nie vergessen, aber das Bild zu beschreiben wird mir schwerlich glücken, obwohl ich es ja nun noch vor mir sehe. Ich sitze hier wie im Mittelpunkt eines riesigen Halbrunds, vor mir eine weite, smaragden schimmernde Wiese, die sich in sanfter Neigung zu einem blaugrünen, rauschend und blinkend über Geröll und Felsen hinschäumenden Flüßchen hinabsenkt; rings um die Wiese aber Wald und Wald und Wald, immer höher emporsteigend, immer ferner und blauer dem Auge, bis dies Blau der hohen Forste mit dem des Himmels verschmitzt; mit unbewaffnetem Auge kann ich ihre Grenzlinie kaum erkennen. Das ist alles; nur im Vordergrund zur Linken erhebt sich auf einem Felsvorsprung ein mächtiges, graues Mauerwerk, das Schloß. Also ein eintöniges Bild, wird man denken. Eintönig? – ich habe in diesen Tagen oft die Empfindung gehabt, als hätte ich noch keine belebtere Landschaft gesehen, keine an Farben und Formen reichere. Schon wie sich die Hügel hintereinander aufbauen, dieser sanft und jener schroff, dieser breit und jener schlank, höher und höher, alle wie Stufen einer Riesentreppe aufwachsend bis in den Himmel hinein und so dem Blick zu einer Einheit gebunden und doch keiner dem andern gleich oder ähnlich, schon dies kann wahrlich das Auge beschäftigen und ergötzen. Auch die Bäume sehen selbst aus dieser Entfernung verschieden genug aus: die Tannen hoch, spitz und schlank, die Kronen der jungen stolz nach oben strebend wie eine Flamme, die der alten abgeplattet und verwachsen, als trügen sie ein Nest; die borkigen Föhren, dort, wo sie dicht zusammenstehen, mit dünner, wo sie unter Laubholz stehen, mit weit ausgreifender, kuppelförmiger Krone, als wäre ihnen auferlegt, unter ihresgleichen nicht recht gedeihen zu können, und – ich nenne nur eben die häufigsten Baumarten, aus denen diese ungeheuren Forste bestehen – die Buchen mit dem platten, starken Stamm und dem Gewirr länglicher Blätter. Aber nun erst die Farben: wie hebt sich das satte, leuchtende Grün des Wiesengrases von dem ernsten, fast schwärzlichen Farbenton der Tannen ab; dazwischen stehen die grauen Föhren mit braunrotem Stamm und die lieben Buchen mit den rötlich-weißen Ästen und den hellen glänzenden Blättern. Es ist wahr, das tiefere Grün herrscht immer vor und gibt dem Bilde etwas Ernstes und Erquickliches zugleich; aber selbst bei bedecktem Himmel ist's zwar kein buntes, aber ein farbiges Bild, und nun erst, wenn die Sonne alles Rot und Weiß aufleuchten und das Grün in hundert verschiedenen Farbtönen schimmern läßt. So lebendig wie das Meer ist der Wald nie, schon weil sich das Licht im Gezweig nicht so märchenhaft verschieden brechen kann wie in den Wassern, aber das Auge, dem er tot und einförmig erscheint, ist auch für alle andere Schönheit dieser Erde stumpf. Der Wald lebt und spricht mit tausend Stimmen. Zwar das Zwitschern seiner Vögel kann man hier zumeist nicht vernehmen, es ist zu weit; nur zuweilen trägt mir ein jäher Windstoß etwas von dem feinen Konzert zu, das fortwährt vom Morgengrauen bis gegen Mitternacht. Aber der helle Ruf des Falken wird oft hörbar, noch öfter läßt sich der Kuckuck vernehmen, und nicht selten hört man schon jetzt das seltsame, aufregende, dem Stiergebrüll ähnliche, aber stürmischere »Orgeln« des Hirsches. Zuweilen auch fällt ein Schuß, hoffentlich auf Wild, vielleicht auch auf einen Menschen; es wird hier viel gewildert. Nie aber erstirbt ein zwiefaches Rauschen, das hellere des Bachs, das dumpfere des Laubs und der Nadeln. Es ist, als wüchse ihnen mit dem schwindenden Licht die Kraft des Tons; in der dunklen Nacht klingt es gewaltiger, sanfter im Mondschein. Wir haben jetzt Vollmond; wie so das silberne Licht die Dünste des Abends niederkämpft und dann sein Netz über die dunklen, leise rauschenden Forste spannt, ist märchenhaft anzusehen... Ja, es war der Mühe wert, daß ich mir die Aussicht auf die Hirschwiese erkämpft habe, obwohl man da nie einen einzigen Hirsch sehen kann. Am ersten Tage – dem regnerischen Wetter war ein herrlicher Abend gefolgt – stand ich mit sinkender Sonne auf meinem Balkon und spähte erwartungsvoll hinab. Ich habe einst, in meiner frühen Jugend, im wald- und wildreichen Vorgebirg der Karpaten das schöne Bild oft genug gesehen; wie gegen Abend aus dem Dunkel des Waldes zuerst das starke Leittier mit gestrecktem bärtigem Hals und spähenden klugen Augen hervortritt, dann sein kleineres Weibchen und endlich das ganze Rudel der edlen Tiere mit breiter Brust, schlanken Beinen und feinem Kopf, zu äsen und zwischendurch aus dem Bach zu trinken. Und diesmal sollten's gar 70 oder 80 sein! Aber die Zeit verstrich, die Sonne ging rotglühend hinter dem Lieberholz nieder, und sie kamen nicht. Ich ging zum Abendessen ins Restaurant und fragte den Kellner, warum denn heute die Hirsche ausgeblieben wären. »Unmöglich«, sagte er kaltblütig, »Sie werden's übersehen haben!« Am nächsten Tage erwiderte er auf die gleiche Frage: »So? Ja, man hört jetzt oft darüber klagen, die Hirsche sind in letzter Zeit nicht pünktlich.« Kein Wunder, dachte ich, das machen sie ihren Nachbarn, den Kellnern, nach. Am dritten Tage aber begann ich zu ahnen, daß das diabolische Lachen des »Thüringer Hofs« trotz Baedeker seine Berechtigung gehabt, und so war es auch. »Es ist eine Entrikuhe unserer Feinde«, gestand mir derselbe Jüngling. Es ist aber, obwohl der »Weiße Hirsch« dadurch ein hübsches Schaustück verloren hat, doch keine Intrige seiner Feinde, sondern eine sehr berechtigte Maßregel des fürstlichen Oberforstamts, wenn es den Tieren den Weg zu dieser Wiese verrammelt und zu einer anderen ganz abgelegenen geöffnet hat. Die edlen Tiere wurden hier von bösen Buben wiederholt durch Geschrei und Steinwürfe behelligt. Wer die Missetäter waren, ob, wie die einen sagen, alte holländische, oder, wie die andern meinen, junge thüringische Buben, weiß ich nicht. Trotzdem habe ich in den acht Tagen wohl ein Dutzend Hirsche gesehen, weil ich den Wald nicht bloß von meinem Fenster aus genoß. Aber auch das Nächste und Nahe habe ich mir genau angeguckt, worüber freilich nicht viel zu sagen ist. Das Schloß abgerechnet, das für sich eine ganze Siedelung mit allem Zubehör ist, besteht der Ort aus zwei Teilen, dem Hotelviertel auf dem Schloßberg, dem Dorf Talschwarzburg an seinem Abhang und im Flußtal. Das Hotelviertel besteht aus fünf stattlichen Häusern, von denen dem Gebieter des »Weißen Hirsch« drei zugehören, lebt schlecht und recht oder vielmehr, da Friedrichroda und Oberhof zu seinen Ungunsten emporgekommen sind, mehr schlecht als recht vom Taler des Fremden und wird im Durchschnitt nicht besser noch schlechter verwaltet als das Thüringer Gasthofwesen überhaupt. Die herrliche Waldlandschaft, die günstige Lage im Herzen Deutschlands sorgt für Zuspruch; der Mensch tut nicht viel dazu. Gründliche Wandlung könnte nur ein Gesetz bewirken: »Jeder Thüringer Wirtssohn muß, eh er das väterliche Geschäft übernimmt, ein Jahr im Schwarzwald, zwei am Rhein und drei in der Schweiz Kellner sein und bei Übernahme des Geschäfts seine Eltern ins Ausgedinge setzen. Dreinzureden haben sie nichts, namentlich nicht bezüglich der Betten, der Küche und der Notwendigkeit des Staubwedels.« Wer in Thüringer Gasthöfen Bescheid weiß, wird diesen Gesetzentwurf nicht allzu drakonisch finden, auch hier nicht die Stimme eines Feindes, sondern die eines Freundes des schönen Landes heraushören. Das Dorf Schwarzburg gleicht hundert anderen in Thüringen, höchstens daß es der vielen neuen, für die Sommergäste in städtischem Stil aufgeführten Häuser wegen noch etwas unhistorischer, man möchte sagen künstlicher aussieht als viele seinesgleichen; selbst die Kirche ist ein Neubau und nur die Barockkanzel von 1712. Und doch ist es eine uralte Wohnstätte; zwar erst 1072 in Urkunden genannt (»Swartzinburc«), aber zweifellos noch Jahrhunderte älter. Gleichwohl trügt der erste Eindruck nicht; es ist ein Ort, der gleichsam nie um seiner selbst willen bestand, und solche Orte haben keine charakteristische Prägung, weil sie keine eigene Geschichte haben. Lange war »Swarsburg villa« nur um des »castrum Swarsburg« willen da, der Wohnsitz der Dienstleute, Tagelöhner und Handwerker, die im Schloß nötig waren, und jetzt ist's daneben auch gleichsam die Arbeitsstube des Hotelviertels: hier wird für die Fremden gebacken, geschlachtet, die Wäsche gewaschen. Daneben ist's eine bescheidene Konkurrenz dieses Viertels: an jedem Haus ein Aushang: »Möblierte Zimmer mit Frühstück« und fast an jedem das Schild eines Handwerkers. In einem der Häuser am Bergabhang zu hausen mag nicht übel sein; der Blick auf dies Tal ist zwar nicht mit der Waldaussicht zu vergleichen, aber doch hübsch; auch ist die Luft rein. Warum aber die Leute, die unten im schwülen Tal bei Schuster und Gerber, Tischler und Fleischer ihre Sommerfrische halten, nicht lieber – es sind viele Berliner – in ihren Wohnungen bleiben, verstehe ich nicht; denn wenn sie etwa in Berlin C hausen, so haben sie im August auch dort ähnliche Düfte. Übrigens sieht man auch in Talschwarzburg viele elegante Toiletten und hübsche Gesichter; gestern, als ich auf einem Bänkchen am Schwarzaufer saß, sah ich sogar ein traumhaft schönes. Es war ein herrlich erblühtes blondes Mädchen mit einem Antlitz, in dem jede Linie »Reiz und Geist und Leben« war; sie saß auf dem nächsten Bänkchen neben ihrer Mutter und sah träumend in die Wellen; ihr Antlitz hatte dabei einen Ausdruck so heißer Sehnsucht, daß er mich ergriff und rührte. Was das arme schöne Kind so bewegen mag, dachte ich. Da rührten sich die Lippen, und sie flüsterte: »Mama, gelbe Schuhe muß ich haben!« Das interessanteste Bauwerk Schwarzburgs ist natürlich das Schloß. Es ist an sich nicht schön, aber es hat eine herrliche, unter allen Fürstensitzen Deutschlands vielleicht die herrlichste Lage, und vor allem: es hat Charakter. Etwas nüchtern, aber gediegen und heiter, nach Zweck und Emblemen ein riesiges Jagdschloß, paßt es zu dem gesunden, frohgemuten, nie hervorragenden, aber im Durchschnitt pflichttreuen Geschlecht der Wald- und Jagdgrafen, deren Wohnstätte es seit grauen Tagen ist, der einstigen Erbjägermeister Deutschlands. Mit den Schwarzburgern verglichen sind, was ihren Stammbaum betrifft, die meisten deutschen Fürstenhäuser Emporkömmlinge; zwar ihr Ahnherr Günther, der von Bonifacius getaufte heidnische Thüringer, ist in Wahrheit nicht von trotzigen Helden, sondern von devoten Christen erzeugt worden, von Hofgenealogen des 16. Jahrhunderts, aber wenn nicht schon vor 1 300, so saßen doch die Schwarzburger sicherlich bereits vor 1 000 Jahren auf dieser Burg und waren die Beherrscher dieser Jagdgründe, anfangs als Dynasten, dann als Reichsgrafen. Ihre Geschichte war immer die ihres Gaus; ihr Tun, ob nun weise oder töricht, nutzlos oder erfolgreich, immer nur auf dies Waldland gerichtet und in seine Grenzen gebannt; einen einzigen abgerechnet, haben sie sich nicht um die Welt gekümmert und die Welt nicht um sie. Auch diesen einzigen hat nicht sein eigener Wille, sondern das Drängen anderer zu kurzem, ihm verhängnisvollen Glanz erhoben; Günther XXI. war schön und stark, tapfer und ritterlich, aber weder klug noch ehrgeizig; 1349 von den Gegnern des Papstes und der Luxemburger zum deutschen König gewählt, wurde er wenige Monate später durch Gift hinweggeräumt. Zur Erinnerung nahmen seine Nachkommen den Reichsadler zum Wappen an, aber hervorgetan hat sich seither keiner von ihnen, durch Gutes so wenig wie durch Schlimmes. Die Herren taten immer wie ihre Nachbarn, sie fügten sich der thüringischen, dann der sächsischen Oberhoheit, so lang es sein mußte, und schüttelten sie ab, so bald es sein konnte, sie rafften an Land und Rechten zusammen, was erreichbar war, teilten es, als dieser verhängnisvolle Brauch unter die deutschen Fürsten kam, in die winzigsten Parzellen und suchten sie dann, als er aufhörte, wieder zu vereinigen, mit Güte, noch öfter mit Gewalt. Gleich den anderen wurden sie im 16. Jahrhundert evangelisch, kauften sich im 17. Jahrhundert einen höheren Stand (die Reichsfürstenwürde) und die damals gleichfalls allgemein üblichen Mätressen, trieben im 18. die Soldatenspielerei und wurden im 19. konstitutionell, um es mit kleinen Seitensprüngen ins Reaktionäre zu bleiben. Viel Geld hatten sie nie, aber auch nie viel Schulden. Und dies sieht man auch ihrem Hause an; es ist stattlich und wohnlich, aber nicht prunkvoll.



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